Vertrauensräume schaffen
In vielen schulischen- und außerschulischen Bildungseinrichtungen unserer Migrationsgesellschaft fehlen Entwicklungsräume, in denen junge Menschen über das reden können, was sie bewegt, ohne bewertet
oder verurteilt zu werden. Das Essener Jugenddialogprojekt zeigt, warum bewertungsfreie Räume einen Unterschied machen.
Das Kommunale Integrationszentrum der Stadt Essen führt seit 2007 das Projekts „Interkultureller Dialog
zur Aktivierung und Partizipation von Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft“ an verschiedenen Schulen, Moscheen und Jugendeinrichtungen durch. Seit April 2017 werden an der UNESCO-Schule zwei Dialoggruppen für die
Klasse 9 angeboten.
Bei diesem Projekt geht es darum bei Jugendlichen unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung ein Bewusstsein für Demokratie und politische Mitwirkung zu schaffen oder zu stärken. Dies geschieht
unter der Anleitung pädagogisch geschulter Dialogmoderatoren. In wöchentlichen Gruppensitzungen lernen die Jugendlichen durch den Dialog basisdemokratische Kompetenzen kennen und nutzen. Sie üben, die Meinung des Anderen auszuhalten,
auch wenn sie diese nicht teilen und lernen gegenseitigen Respekt, indem sie einander zuhören und ausreden lassen. In einfachen Gesprächen, aber auch in Konfliktsituationen wird den Jugendlichen beigebracht auf sachlicher Ebene
eine argumentationsreiche Auseinandersetzung auszutragen. Der Erwerb und die Anwendung dieser Sozialkompetenzen als Schlüsselqualifikation bilden die Grundlage dafür, dass die Jugendlichen kontroverse Themen kommunizieren können
und reflektieren lernen.
Der Dialog
„Der Dialog ist eine Chance, Neues zu entdecken, keine Garantie, Altes zu bewahren.“ (David Bohm)
Im Vordergrund des Dialogs steht, Erkenntnis über das eigene Denken
und Handeln zu erwerben und dadurch Entwicklung bei sich
selbst zu erlauben, anstelle des Anspruchs, das Denken und Handeln anderer zur verändern. Das dialogische Gespräch lädt zu einer Kultur des Miteinanderdenkens
ein – einer Kultur, die unglaubliches Potenzial freizusetzen vermag, wenn man ihr Raum gibt.
Schon vom griechischen Philosophen Sokrates ist bekannt, dass er tiefsinnige Gespräche mit fremden Menschen auf öffentlichen Plätzen
und Straßen führte. In gewisser Weise kann das bereits als eine Vorform des dialogischen Gesprächs betrachtet werden, von dem hier die Rede ist. Mit viel Ironie stellte er Fragen, die das eigentliche Sein von Lebewesen berührten.
Eine besondere Herangehensweise war dabei stets die Beschäftigung mit einem bestimmten Thema über einen längeren Zeitraum. Genau diese Fähigkeit spielt im Dialog eine entscheidende Rolle. Die Philosophie des Dialogs basiert darauf,
sich Zeit zu nehmen, um bei einem Thema oder einer Frage zu verweilen. So kann sich ein Raum für das Erkunden von Hintergründen, tieferliegenden Beweggründen und unbeachteten Aspekten eröffnen – und das Gespräch zu der Weisheit
führen, die jedem einzelnen Menschen innewohnt.
Wie läuft eine typische Dialogsitzung ab?
Die Dialoggruppen richten sich primär an Jugendliche ab dem 14. Lebensjahren. Eine Gruppe wird von 8- 12 Jugendlichen
besucht sowie von zwei DialogbegleiterInnen geleitet.
Begonnen wird die rund 90-minütige Dialoggruppensitzung mit einem kleinen Imbiss, den die beiden DialogbegleiterInnen zuvor mit einigen Jugendlichen vorbereitet haben.
Diese Vorbereitungszeit ermöglicht bereits erste lockere Gespräche mit Jugendlichen, die freiwillig mithelfen wollen. Besonders wichtig ist dieser erste Kontakt in der Gründungsphase der Gruppe, weil zurückhaltende Jugendliche
hier leichter aus sich herauskommen. Der anschließende fünf bis zehnminütige Imbiss im Stuhlkreis erlaubt einen ungezwungenen Einstieg in die Sitzung. Hier dürfen Pausengespräche weitergeführt werden und DialogbegleiterInnen einfach
nur GruppenteilnehmerInnen sein. Während sie anfangs verstärkt eine moderierende Aufgabe zur Strukturierung des Gruppengesprächs übernehmen, sollen sie mit der Zeit zu teilnehmenden BegleiterInnen des Gruppenprozesses werden. Den
Jugendlichen geben sie kein Thema, aber eine Sitzungsstruktur vor, die im Vergleich zum offenen Gesprächsgeschehen und -inhalt Orientierung und Sicherheit bieten kann.
Danach folgt eine Befindlichkeitsrunde. Diese ermöglicht
jeder/jedem Gruppenteilnehmenden – besonders auch unsicheren oder schüchternen Jugendlichen – als Teil der Gruppe sichtbar zu werden. Alle kommen nacheinander zu Wort und haben die Möglichkeit, darüber zu berichten, wie sie ihr
Wochenende verbracht haben und wie es ihnen derzeit geht. Anschließend folgt eine News-Runde. Hier wird die Frage in den Raum gestellt, welche neuen Nachrichten es in der Gruppe gibt. Das können sowohl persönliche oder schulbezogene
Neuigkeiten sein, aber auch Gesellschaftspolitisches, das über verschiedene öffentliche Medien das eigene Interesse geweckt hat.
Es werden unterschiedlichste Themen besprochen, wie zum Beispiel Religion, Zukunft, Naturkatastrophen,
politische Wahlen, soziale Netzwerke, Drogen oder Stars. Die DialogbegleiterInnen helfen beim Prozess der Themenfindung für das folgende Gruppengespräch. Sie fassen die Themen kurz zusammen, die in den Befindlichkeits- und News-Runden
hervorgebracht wurden. Wenn sich daraus noch kein Gesprächsanreiz ergibt, stellen sie Fragen, die zum gemeinsamen Nachdenken über ein Thema anregen sollen. Im Dialog kann es geschehen, dass sich das Ausgangsthema entwickelt oder
verändert, weil es die Jugendlichen zu anderen Fragestellungen oder Überlegungen angeregt hat. An den BegleiterInnen liegt es, das Gesprächstempo zu verlangsamen und an geeigneter Stelle auf die Dialogfähigkeiten aufmerksam zu
machen, die anhand einer Gesprächssituation geübt werden können (zum Beispiel Erkunden, Suspendieren, produktiv Plädieren). Für den Fall, dass kein gemeinsames Thema gefunden wird, haben die DialogbegleiterInnen stets ein Thema
vorbereitet. Das kann eine Fragestellung und/ oder eine Übung zu einer Dialogkernfähigkeit sein. Für verschiedene gruppendynamische Zwecke halten sie außerdem Spiele bereit, wie Warm-ups oder Konzentrationsübungen. Beendet wird
die Dialoggruppensitzung mit einer Feedback- Runde. Die Jugendlichen können hier eine kurze Rückmeldung zum Sitzungsthema, zum Gesprächsverlauf oder an die Gruppe geben.
Bei Fragen oder Interesse am Projekt könnt ihr euch an Herrn Skiba wenden.